Clan der Könige

Teil 1


Paris, Rue Royal, 5.Mai 1819, 21:15 Uhr

Lucien Fabrice Benedict, Comte de Montfort, drehte sich noch einmal vor dem großen Spiegel seines Ankleidezimmers, betrachtete wohlwollend die vornehme Erscheinung, die ihm in einem eleganten, schwarzen Anzug, einem silbergrauen Seidenhemd mit einer Krawatte in selber Farbe, die mit einer Brillantnadel gehalten wurde und den im Nacken zusammengebundenen langen schwarzen Haaren, daraus entgegensah.

"Die Kutsche ist bereit, Jean?", fragte er seinen Diener und sah ihn im Spiegel an.

"Ja, Monsieur."

"Dann lass uns ein bisschen Spaß haben", grinste der Graf und nahm Jean den Zylinder und den Gehstock ab, den dieser ihm reichte. Jean legte ihm noch das leichte Cape um die Schultern und eilte dann zur Tür vor, um sie zu öffnen.

Dankend nickte Lucien, schritt dann zügig zur Treppe, die er mit leichten, wippenden Schritten hinabschritt. Wieder eilte Jean an ihm vorbei, um die große Eingangstür des Pariser Stadthauses des Comte zu öffnen.

"Einen vergnüglichen Abend, Monsieur le Comte", sagte er mit einer leichten Verneigung, während Lucien an ihm vorbeiging.

"Oh, den werde ich bestimmt haben, mein lieber Jean, den werde ich haben, bei Madame Yvette und ihren Kätzchen", lachte er und der Diener lachte ebenfalls.

"Oh ja, Monsieur, dann wird es bestimmt ein vergnüglicher Abend."

Gutgelaunt stieg Lucien in die Kutsche.

"Zur 'Mausefalle', Patrik", sagte er und lehnte sich entspannt zurück.

Die 'Mausefalle', eines der elegantesten und teuersten Bordelle Paris', war immer eine gute Adresse für einen amüsanten und befriedigenden Abend. Madame Yvette stand einer Gemeinschaft von hervorragend ausgebildeten, geistreichen und kultivierten jungen Damen und Herren vor, die sich selber Madame Yvettes Kätzchen nannten und die Mäuse, die sie fingen, waren die wohlbetuchten Kunden dieses Etablissements. Ja, auch junge Männer gehörten zu Madame Yvettes kleiner Gemeinschaft, denn bei weitem nicht alle 'Mäuse' waren männlich, auch viele Damen der Pariser Gesellschaft verbrachten hier so manchen netten Abend in angenehmer Gesellschaft. Das auch der eine oder andere Herr die Dienste der männlichen Kätzchen in Anspruch nahmen, braucht hier nicht weiter erwähnt zu werden.

Laut hallten die eisenbeschlagenen Räder über das Pflaster. Oft war das Geräusch auch nur gedämpft, wenn Passagen der Straßen meterhoch unter Müll verschwanden, der sich wie eine mehr oder weniger gleichmäßige Schicht überall in der Stadt ausbreitete. Hie und da säumten auch aufgehäufte Berge von Abfall den Weg, doch die waren seltener.

Plötzlich war ein Schrei zu vernehmen und lautes Fluchen in einer fremden Sprache. Hart moduliert im Gegensatz zu dem weichen Französisch, dessen singender Klang selbst bei den einfachsten Leuten nie ganz verloren ging.

Lucien saß in der Kutsche und ließ sich von Patrik wieder nach Hause fahren. Während er auf seine goldene Taschenuhr sah, nur um festzustellen, dass es bereits vier Uhr morgens war, leckte er sich nochmals über die Lippen. Er hatte die Nacht mit der blonden Nanette verbracht, die es meisterhaft verstand ein Florett zu führen. Ungewöhnlich für eine Frau und noch ungewöhnlicher für eine Hure. Lucien lächelte. Er hatte schon öfters Nanette zu seiner Favoritin der Nacht gemacht und auch schon öfters ein freundschaftliches Duell mit ihr ausgetragen, doch sie überraschte ihn immer wieder. Er hatte keine Ahnung wo und wann sie diese edle Kunst erlernt hatte und wie sie diese trainierte und es interessierte ihn eigentlich auch gar nicht, allein die Tatsache zählte, dass Nanette die Klinge zu führen wusste.

Das er sich als Gewinner des Duells einen Preis erwählen durfte und dieser Preis Nanette hieß, war eigentlich logisch, obwohl besagter Preis sich heldenhaft gewehrt hatte. Zum Schluss musste Nanette dann doch lachend eingestehen, dass Lucien besser war. Er verriet ihr allerdings auch nicht, dass er diese Kunst seit mehr Jahren trainierte, als sie sich es vorstellen konnte.

Erneut leckte er sich bei der Erinnerung an die letzten Stunden über die Lippen. Die blonde Hure war einfach nur lecker gewesen. Lächelnd hatte er ihr noch einen Kuss auf die etwas bleichen Lippen gehaucht, bevor er gegangen war. Matt hatte sie ihn gefragt, wann er sie wieder erwählen würde und er hatte ihr versprochen, dass sie sicher nicht lange warten müsste. Dann hatte er beschwingten Schrittes die 'Mausfalle' verlassen und nun saß er in der Kutsche auf dem Weg nach Hause.

Kurz klopfte er mit dem Knauf seines Gehstockes gegen die kleine Luke im Dach der Kutsche und rief Patrik zu, er solle sich beeilen, da es bald hell würde.

Es war für ihn nicht von Wert, nach dem Fluchenden zu schauen, der anscheinend nicht die Regeln des Pariser Verkehrs kannte.

Friedrich war nahe am Verzweifeln. Er war noch mit Mühe und Not in die Stadt gekommen, um so von dem vagabundierenden Banditen der Landstraße sicher zu sein, auch wenn es nicht weniger Spitzbuben in Paris selbst gab.

Geld hatte er kaum noch und sein letztes Essen bestand aus einem harten Kanten Brot. Hier in der Stadt irgendwo einzukehren war ein Unterfangen, das hieß, dass er sich legalisiertem Straßenräubertum aussetzte. Selbst die Übernachtung in einem Stall war unverschämt teuer.

Friedrich fluchte wieder. Dieses Mal leiser. Es war unklug, Gesindel auf sein Unglück hinzuweisen und sie dazu einzuladen, sich auch noch des Rests seiner Habe zu bemächtigen. Gab es denn in dieser verdammten Stadt keine Seele, die sich seiner erbarmte?

Patrik hatte den kürzeren Weg gewählt und dabei in Kauf genommen, durch eines der armen Viertel der Stadt zu fahren, doch es galt, vor Sonnenaufgang wieder im Haus des Comte zu sein. Also nahm er die Abkürzung durch das Gerberviertel. Plötzlich wurde die Kutsche vehement zum Stillstand gebracht, Lucien flog quer durch die Kutsche und fluchte darob in bestem Alt-Französisch und war wieder einmal froh, dass niemand zugegen war, der dies hören konnte. Nicht, weil er unflätig fluchte, dies war verzeihlich, selbst für einen Comte aus uraltem Adelsgeschlecht, jedoch die Tatsache, dass Lucien dies in einer Sprache tat, die seit mehr als hundert Jahre in Frankreich nicht mehr gesprochen wurde, hätte einen aufmerksamen Zuhörer stutzig gemacht.

Nachdem er sich nun halbwegs wieder aufgerappelt hatte, wollte er wütend von Patrik wissen, wieso er so abrupt die Kutsche zum Stehen gebrachte hatte, doch ehe er noch die kleine Luke im Dach geöffnet hatte, wurde dies von Patrik getan, der entschuldigend hineinsah.

"Pardon, Monsieur le Comte, aber mir ist jemand vor die Pferde gelaufen."

"Dann sieh nach, ob ihm etwas passiert ist, Patrik!", wies ihn der Comte kurz angebunden an und stieg aus der Kutsche. Schnell war um die Pferde herumgelaufen und sah dann die zusammengekrümmte Person, die sich gerade mühsam wieder aufrichtete.

"Mon Dieu, ist Euch etwas passiert, Monsieur?", fragte er besorgt.

Friedrich sah auf.

"Was glauben Sie?", fluchte er in einem Französisch mit hartem Akzent. So wie es sich anfühlte, stimmte irgendetwas mit seinem Bein nicht. Als er es berührte, schrie er vor Schmerzen auf. Tränen schossen ihm in die Augen, dann verstummte er zu einem leisen Wimmern, gelegentlich von noch leiseren Flüchen unterbrochen.

"Ihr Bein muss von einem Arzt versorgt werden", stellte Lucien bestimmt fest. Noch ehe der andere protestieren konnte, hatte ihn der Comte auf den Arm genommen und ging zur Kutsche. Geschickt stieg er mit seiner Last ein, bettete ihn vorsichtig auf die eine Sitzbank.

Kurz warf er einen Blick zum Himmel, die Zeit wurde langsam knapp.

"Patrik, au plus vite à la maison! [Patrik, so schnell wie möglich nach Hause!]"

Der Kutscher fuhr nun wie der Henker durch die Straßen Paris', hielt kurze Zeit später vor dem Stadtpalais. Er riss die Tür auf und wollte dem Comte den Verletzten abnehmen, doch der schüttelte den Kopf.

"Ich bringe ihn ins Grüne Zimmer, hol du Dr. Bâcleur[1]." Wieder wanderte sein Blick zum Himmel, der sich langsam zu verfärben begann und von einem dunklen Blau in ein sanftes Grün und am unteren Rand des Horizonts bereits in ein leichtes Purpurrot überging. "Die Zeit drängt." Dann hastete er ins Haus, an dem erstaunten Jean vorbei ins Grüne Zimmer.

"So, junger Mann, Jean wird sich im Weiteren um Sie kümmern. Ich habe leider einen äußerst wichtigen Termin, der keine Sekunde Aufschub mehr gestattet. Wir sehen uns heute Abend." Damit legte er seinen unfreiwilligen Gast auf einer Ottomane ab, neigte kurz den Kopf und verschwand. Zurückblieb ein erstaunter junger Mann und ein äußerst distinguierter Diener.

Friedrich warf noch einmal einen Blick auf die mit goldenen Ornamenten verzierte weiße Tür. Das war jetzt alles ziemlich schnell gegangen, fand er und dabei hatte er noch nicht einmal Protest anmelden können.

Der Arzt, Dr. Bâcleur, betrat einige Minuten später den Salon, in dem er entweder von diesem Diener überwacht oder bewacht wurde. Vielleicht war aber auch nur seine Aufgabe, auf die nächsten Befehle zu warten, wie diese auch immer sein mochten und wer sie auch immer aussprach.

"Monsieur", wurde er mit einer Verbeugung begrüßt. Dann rümpfte der weißhaarige Mann sichtbar die Nase ob des Gestanks, den Friedrich verströmte. Dem war das selbst unangenehm und senkte peinlich berührt den Kopf.

Trotzdem machte der Arzt keine weiteres Zögern geltend und kümmerte sich um die Wunde.

Zischend sog Friedrich die Luft durch seine Zähne, als sein Bein behandelt wurde. Schweiß brach ihm aus und er brauchte seine ganze Willenskraft, um nicht laut zu schreien.

"Sie haben es überstanden, Monsieur", wurde er nach eine Ewigkeit von dem Arzt erlöst. "Sie müssen zwei Wochen mindestens ruhen. Der Knochen ist zwar nicht durch-, aber angebrochen. Die Wunde muss sauber gehalten werden. Morgen komme ich wieder, um sie mir anzuschauen. Wenn Sie keine weiteren Beschwerden haben, werde ich mich jetzt empfehlen."

Friedrich nickte nur und sah dem Arzt nicht minder erstaunt nach, wie auch dieser verschwand.

"Und was jetzt?", fragte er an den Diener gewandt. "Ich kann unmöglich hier bleiben. Ich..."

"Aber ja, Monsieur, selbstverständlich können Sie hier bleiben. Monsieur le Comte hat es ausdrücklich so angeordnet." Jean verneigte sich kurz und schritt würdevoll zu einem breiten Bett, welches an der Rückwand des Zimmers stand. Er deckte es auf, suchte dann in einem der Schränke, aus dem er dann ein blütenweißes Nachthemd hervorholte und damit zu Friedrich schritt.

"Darf ich Ihnen beim Entkleiden behilflich sein, Monsieur?", fragte er und blieb wartend mit dem Nachthemd in der Hand neben dem jungen Mann stehen. "Ich könnten dann auch für die Reinigung Ihrer Kleidung sorgen."

Friedrich sah auf seine schäbige und fadenscheinig gewordene Reisekleidung. Der hohe Herr schien anscheinend eine Vorliebe für heruntergekommenes Gesindel zu haben, denn wieso hatte er sich um ihn gekümmert? Das tat niemand. Jeder machte, dass er so schnell wie möglich vom Unglück anderer wegkam und nicht mit hineingezogen wurde. Jetzt hatte er aber nicht nur eine Versorgung seiner Verletzung erfahren, sondern sollte sogar noch länger bleiben - Gast sein.

"Ich weiß nicht. Ich glaube ich kann das allein, Monsieur."

Langsam zog er seine schmutzige Jacke aus und dann sein Hemd. Erst bei seiner Hose und den Schuhen stockte er. Das sah schlimm aus. Der Arzt hatte ihm den blutigen Stoff zerrissen und die Haut darunter gesäubert. Jetzt lugte ein weißer Verband hervor.

Jean sah Friedrichs betroffenen Blick auf seine zerrissene Hose.

"Comte de Montfort wird selbstverständlich für Ihre zerrissene und beschmutzte Kleidung aufkommen."

Wortlos kniete sich der Diener vor Friedrich, band dessen Schuhe auf und half ihm aus den Resten seiner Hose. Dann schob er einen kleinen Wagen, der an einen Teewagen erinnerte, an die Ottomane heran. Auf ihm stand eine Waschschüssel, auf einem zweiten Brett darunter befand sich eine Wasserkanne und an der Seite hingen Hand- und Waschtücher. Da nur Friedrichs Bein verletzt war, ging Jean davon aus, dass er beim Waschen keine Hilfe benötigte. Diskret zog er sich zurück. Vorher stellte er eine kleine, silberne Glocke auf den Waschtisch.

"Wenn Sie mit der Körperpflege fertig sind, läuten Sie, Monsieur, dann werde ich Ihnen beim Erreichen des Bettes behilflich sein. Wünschen Sie vorher noch eine Kleinigkeit zu speisen? Oder etwas zu trinken?"

Friedrich war als Student und als Sohn seines Hauses nicht eine solche zuvorkommende Behandlung gewöhnt. Aber an seinen Hunger gemahnt, nickte er und stimmte einem kleinen, bescheidenen Imbiss zu. Dankbar sah er dem Diener hinterher, dann machte er sich daran, sich zügig zu waschen.

Als er fertig war, wagte er es nicht, nach dem Diener zu läuten. Da er aber eine ganze Weile wartete, nahm er an, als die Sonnenstrahlen das Fensterbrett erreichten, dass er doch besser daran tat.

Sofort trat Jean ins Zimmer, schob einen kleinen Wagen vor sich her, auf dem ein bescheidener Imbiss angerichtet war: Frisches Brot in zwei Sorten, Butter, Marmelade, Honig, Käse, diverse Sorten Wurst und kalter Braten, dazu frisch gebratene kleine Würstchen, Rührei, Croissant, Kaffee, Tee, Milch.

"Wenn Sie einen speziellen Wunsch haben, Monsieur, dann zögern Sie nicht, ihn zu nennen."


[1] Der des Französischen mächtigen Leser wird diese kleine Wortspielerei sicher verstehen, für alle anderen übersetzte ich sie: Bâcleur = Pfuscher




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