Clan der Könige

Teil 2


Vorsichtig probierte Friedrich seine Bewegungsfreiheit aus. Als die untergehende Sonne hinter den Baumwipfeln des nahen Waldes oder wahrscheinlich Parks verschwand, war er aufgewacht. Er hatte sich allein in dem großen grünen Zimmer vorgefunden.

Das Frühstück war schon lange abgedeckt worden, noch ehe er seine Augen geschlossen hatte. Ob jemand da gewesen war, als er schlief, das wusste er nicht. Friedrich hatte das Gefühl, als ob er den Schlaf der letzten Tage nachgeholt hätte.

Jetzt fühlte er sich zwar ein wenig gerädert, aber dennoch ausgezeichnet. Ein seltsamer Zwischenzustand, aber nicht unangenehm. Friedrich betastete den Verband und verzog das Gesicht. Das fühlte sich hingegen alles andere als gut an.

Leise seufzte er. Der Herr würde ihn wahrscheinlich diese Nacht rausschmeißen. Vielleicht kam er damit noch gut weg. Wer weiß welchen Preis er, Friedrich, für die Wohltaten dieses Grafen, Fürsten oder Barons bezahlen musste. Nichts war umsonst auf der Welt, das hatte ihm schon sein Vater früh eingebläut.

'Hüte dich vor den Griechen, wenn sie Geschenke bringen', pflegte er immer zu sagen. Friedrich konnte ihn sich richtig vorstellen: Die blütenweiße Schürze, wenn er die kostbaren Waren begutachtete und verhindern wollte, dass irgendetwas sie beschmutzte.

Friedrich spürten den kurzen Stich des Heimwehs. Ab und zu hatte er das. Er war aber schon viel zu weit von zu Hause fort, um schnell wieder zurückzuwandern.

Die Dämmerung zog dunklen Fingern gleich über das helle Parkett und raubte den zierlichen Intarsien ihre Farben und das Grün wurde zu einem dumpfen Schwarz. Noch atmete der Himmel in einem schweren Grau, aber nicht mehr lange.

Friedrich zog die Decke wieder über sein Bein. Vielleicht sollte er genießen, so lange ihm so ein Luxus geboten wurde... egal, was der nächste Morgen brachte.

Lucien erwachte lange nach Sonnenuntergang. Er streckte sich und überlegte einen Moment, was heute Nacht vorgefallen war, dass er beinahe zu spät ins Bett gekommen war. Ach ja, da war ihm doch ein junger Mann vor die Kutsche gelaufen und er hatte ihn ins Grüne Zimmer gebracht und Patrik nach Dr. Bâcleur geschickt. Wie es dem jungen Mann wohl ging? Er hoffte, dass die Verletzungen nicht allzu schwer waren. Langsam erhob er sich, ging zu seinem Waschtisch und begann mit seiner 'Morgentoilette', wie er es nannte, obwohl es bereits Nacht war. Nicht, dass er diese Reinigung wirklich nötig hatte, doch er hatte sich in den Jahrhunderten einfach an dieses Ritual gewöhnt. Waschen, Zähne putzen, nur auf die Rasur konnte er verzichten, da weder sein Bart- noch sein Haupthaar wuchs, zumindest nicht, solange er es nicht willentlich veranlasste. Nachdem er sich angezogen hatte – leger, nur Hose, Hemd und einen bequemen Hausmantel – begab er sich ins Erdgeschoss in den Salon. Den diensteifrig herbeigeeilten Jean fragte er nach dem Befinden seines Gastes, was ihm positiv beantwortet wurde.

Lucien begab sich, neugierig wen er denn da beherbergte, zur Tür des Grünen Zimmers, klopfte leise, aber energisch an und wartete auf eine Antwort.

Friedrich zuckte zusammen, als die Stille seines Zimmers auf diese Weise unterbrochen wurde. Doch er besann sich und gewährte mit fester Stimme den Eintritt.

"Bon soir, Monsieur", grüßte Lucien, als er das Zimmer betreten hatte. Er wollte gerade die Tür schließen, als Jean mit einem großen Kandelaber kam, weitere Kerzen entzündete, um den Raum zu erhellen. Hinter ihm erschien Patrik, der einen Teewagen mit allerlei Köstlichkeiten hereinfuhr.

Kaum hatten die beiden Domestiken den Raum verlassen, begab sich Lucien zu seinem Gast ans Bett, verneigte sich leicht und sagte:

"Sie gestatten, dass ich mich vorstelle? Lucien Fabrice Benedict, Comte de Montfort." Er richtete sich wieder auf und sah nun seinen Gast zum ersten Mal richtig an. Heute Morgen hatte er mehr Sorge um dessen Wohlbefinden gehabt, als ihn sich genauer zu betrachten, doch was er jetzt sah, gefiel ihm. Die blonden Haare hatten die Farbe dunklen Honigs, auch wenn sie durch mangelnde Pflege etwas an Schönheit eingebüsst hatten. Die blauen Augen in dem junge Gesicht faszinierten Lucien sofort. Den Rest konnte er leider nicht in Augenschein nehmen, da er noch unter der Bettdecke verborgen war.

"Wie fühlen Sie sich, Monsieur? Ich hatte leider noch keine Gelegenheit, mit Dr. Bâcleur zu sprechen und mir ein Bild von Ihrem Gesundheitszustand zu machen. Seien Sie versichert, dieser Vorfall tut mir außerordentlich leid."

Friedrich schluckte. Er war soviel Zuvorkommendheit von den hohen Herren nicht gewohnt. Meist fuhren sie ungerührt weiter, wenn einer den schnellen Kutschen nicht schnell genug ausweichen konnte.

"Macht Euch keine Umstände, Monsieur, mir geht es gut. Ich werde Euch nicht allzu lange belasten. Ich kann auch jetzt gehen."

"Nein!" Befehlsgewohnt und mit einer keinen Widerspruch duldenden Geste sagte es Lucien, nur um gleich entschuldigend hinzuzufügen: "Nein, bitte, bleiben Sie, Monsieur. Mit dieser Verletzung können Sie unmöglich laufen! Kann ich irgendjemanden benachrichtigen lassen, sie irgendwohin fahren lassen?" Er war wirklich um das Wohlergehen seines Gastes besorgt.

Friedrich war erst erschrocken, doch dann fasste er sich wieder.

"Nein, mein Herr. Ich glaube nicht, dass Ihr irgendjemanden benachrichtigen könnt. Bis dahin bin ich wieder auf den Beinen, wenn der Bote bei meiner Familie angekommen ist. Ich komme aus Deutschland und meine Familie lebt auch dort."

"Oh, das ist für wahr ein weiter Weg, um eine Nachricht zu überbringen, die bei ihrer Ankunft schon an Aktualität eingebüsst hat. Dann würde ich mich umso mehr freuen, wenn Sie bis zu Ihrer Genesung mein Gast wären." Lucien deutete eine leichte Verbeugung an und sah dann erwartend auf seinen Gast. Das jugendliche Gesicht, die schmalen Glieder, die sich gut unter dem weiten Nachhemd verbargen, waren durchaus dazu angetan, den Comte zu erfreuen und wenn er ehrlich zu sich wahr, dann faszinierte ihn dieser junge Mann. Noch konnte er nicht sagen, warum, aber das würde er schon heraus bekommen, wenn er sich dazu entschloss, Luciens Angebot anzunehmen.

Friedrich sah sich aber kaum in der Lage wirklich ablehnen zu können und damit rechnete er. Als er den kurzen, resignierenden Zug sah, der der Vernunft geschuldet war, war er sich sicher, dass er den jungen Mann als Gast haben würde.

"Es wäre eine Ehre, der ich kaum würdig bin", erklärte der Student und deutete eine Verbeugung im Liegen an.

"Ich danke Euch."

Ein Lächeln glitt über Luciens Gesicht, als der junge Mann seine Einladung annahm. "Und nun, Monsieur, verratet mir, mit wem ich die Ehre habe."

"Schuster, Friedrich Jakob Schuster", stellte sich Friedrich vor.

"Ich komme aus Preußen, aus Berlin. Nicht direkt die Stadt, aber aus der Umgebung. Ich glaube nicht, dass Ihnen die Namen etwas sagen. Der Ort ist so klein, dass er noch nicht einmal einen hat. Ich bin Student und auf Studienreise."

"Oh, ein Studiosus, wie angenehm", lächelte Lucien und ließ sich auf dem Sofa nieder. Kurz fiel sein Blick auf den Teewagen mit seiner köstlichen Last. Kurzentschlossen erhob er sich erneut, schob den Wagen zu Friedrich ans Bett und bedeutete ihm, sich zu bedienen. Er selber zog sich einen Sessel heran und setzte sich neben das Bett, seinem Gast beim Speisen Gesellschaft zu leisten.

"Doch, ich kenne Berlin und auch seine Umgebung, es ist allerdings schon eine Weile her, dass ich dort weilte", nahm er den Faden der Unterhaltung wieder auf. Mit einem Lächeln verschwieg er allerdings, dass dieser Besuch nun schon fast 80 Jahre her war.

"Ihr sagtet, ihr seid Student. Welche Fakultät, wenn ich fragen darf?" Lucien war wirklich interessiert an seinem Gast.

"Ich studiere Kunst, Latein, Mathematik, Rechtswissenschaften und Geschichte. Die üblichen Fächer. Medizin nicht, ich kann kein Blut sehen", erklärte Friedrich fast bedauernd.

"Nach meiner Studienreise werde ich meinen Doktor machen und dann selbst lehren. Vielleicht bekomme ich eine Professur."

Lucien lächelte. "Eine interessante Zusammenstellung", bemerkte er und sah seinen Gast genauer an. "Nein, ein Medikus sind Sie wahrlich nicht, Monsieur Schuster, obwohl Ihre schlanken Hände durchaus auf einen begnadeten Chirurgen hinweisen könnten." Wieder ließ er seinen Blick über die weißgekleidete Gestalt im Bett wandern, dann sagte er: "Aber warum essen Sie nicht, Monsieur, Sie müssen doch hungrig sein, nach diesem Tag." Er machte erneut eine einladende Geste in Richtung auf den Teewagen.

"Ich denke", er zog seine goldene Taschenuhr hervor, "Dr. Bâcleur wird erst in einer Stunde hier erscheinen, um sich nochmals ihr Bein anzusehen."

"Er kommt so spät? Aber warum machen Sie sich solche Umstände? Ich kann Euch kaum etwas dafür geben, Monsieur de Montfort."

Friedrich befürchtete, dass der Comte ihn die Behandlung löhnen lassen würde. Doch er besaß schon lange kaum einen Louisdor mehr.

"Mais non! [Aber nein!] Ich fahre Sie über den Haufen und Sie sollen die Behandlung bezahlen?! Non, Monsieur Schuster, non, das ist ja dann wohl meine Aufgabe! Sie sind mein Gast, bis Sie vollständig genesen sind!" Luciens Worte duldeten keinen Widerspruch.

"Ja, Dr. Bâcleur weiß, dass ich ein Nachtmensch bin, also kommt er spät abends, was für mich sozusagen früher Morgen ist." Der Graf zwinkerte Friedrich lächelnd zu.

"Gott möge Euch dafür segnen", konnte Friedrich nur noch darauf erwidern. Soviel Großzügigkeit war wirklich selten.

Lucien lachte laut und bitter auf. "Oh, ich bezweifle, dass er mir wohlgesonnen ist und das schon seit langer Zeit nicht mehr."

Er sah Friedrich wieder an. "Essen Sie, Monsieur Schuster, Sie müssen wieder zu Kräften kommen."

Etwas verunsichert über diese Aussage griff Friedrich blind zu. Er achtete nicht auf den Geschmack der köstlichen Speisen, sondern kaute vorsichtig auf dem bitteren Beigeschmack der Worte herum.

"Wie meint Ihr das, 'er ist Euch nicht wohlgesonnen'.", zitierte er vorsichtig.

"Verzeiht, wenn ich Euch zu nahe trete. Es ist nicht meine Absicht. Meine Neugier hat Euch sicherlich verletzt. Vergesst bitte, was ich gefragt habe."

Der Graf lächelte geheimnisvoll. "Nun, sagen wir mal so, ich stehe weder der Kirche noch dem christlichen Glauben sehr nahe." Lucien würde seinem jungen Gast seine wahre Identität, die außer Jean und Patrik nur sehr wenige lebende Menschen kannten, vielleicht zu gegebener Zeit enthüllen, doch jetzt war es auf jeden Fall noch viel zu früh.

Friedrich hatte auf den Comte einen sehr positiven Eindruck gemacht, den er noch länger und intensiver zu prüfen gedachte, doch seine Menschenkenntnis sagte ihm schon jetzt, dass dieser junge Mann durchaus die Qualitäten aufwies, die ihn privilegierten, einer seinesgleichen zu werden.

Friedrich konnte sein Entsetzen über die freimütig vorgebrachte Ketzerei verbergen. Er nahm sich aber vor, vorsichtig im Umgang mit dem Comte zu sein. Ganz bestimmt würde er in die Kirche gehen und die Beichte ablegen. Das war sein ganz fester Vorsatz.

Er genoss nicht wirklich den Bissen, den er zu sich nahm, konnte sich aber zu einem dankbaren Lächeln durchringen. Aber nicht zu einer Antwort.

"Ich sehe Ihre Bestürzung, auch wenn Sie es wundervoll zu verbergen verstehen, Monsieur. Da Sie wohl noch eine Weile mein Gast sein werden, wird sich sicher noch die Gelegenheit ergeben, dass ich Ihnen meine Ansichten zur Kirche und ihren Dienern darlegen kann. Doch nun möchte ich Sie nicht weiter von Ihrer Mahlzeit abhalten. Mich rufen noch Geschäfte, denn auch ein Comte de Montfort kann in Paris nicht ohne Geld leben. Wenn Sie einen Wunsch haben, läuten Sie nach Jean. Ich empfehle mich nun, sicher sehen wir uns am späteren Abend noch mal." Lucien neigte kurz den Kopf, dann verließ er das Zimmer, um sich in sein Arbeitszimmer zu begeben und die eingegangen Post durchzusehen. Wie er es schon seinem Gast gegenüber erwähnt hatte, verdiente sich das Geld nicht von allein.

Vor Scham war Friedrich zusammengesunken. Er hatte nicht vorgehabt, seinen Gastgeber zu brüskieren. Er nahm sich vor, dieses Thema nicht weiter anzusprechen. Dazu hatte er kein Recht und der Comte wusste sehr viel besser, warum er mit der Kirche und damit mit Gott gebrochen hatte. Ihn, Friedrich, ging das nichts an.

Langsam aß er weiter. Kurz schickte Friedrich ein Stoßgebet gen Himmel und bat für sich um Schutz und Seelenheil. Nach kurzem Zögern erbat er das auch für den Comte.



weiter

zurück zum Geschichtenindex