Clan der Könige

Teil 4


Zwei Monate später

(Ende Juli)

 

"Monsieur Schuster!!", rief Lucien durchs Haus und wartete darauf, dass sein Sekretär im Salon erschien, wo der Comte gerade eine Depesche las, die er soeben erhalten hatte.

"Monsieur", grüßte der Gerufene und verbeugte sich leicht.

Lucien sah von seiner Post auf und lächelte.

"Ah, da sind Sie ja. Sagen Sie bitte Jean Bescheid, er soll die Koffer packen, wir fahren nach Craonne. Bitte packen Sie auch Ihre Sachen, Sie werden mich selbstverständlich begleiten." Er überlegte eine Moment, dann zählte er auf, was noch zu packen war:

"Die Geschäftsunterlagen von diesem und dem letzten Jahr, die blaue Mappe aus dem Tresor, ach ja und das kleine rote Büchlein auch." Wieder blickte er überlegend vor sich hin.

"Ich denke, das wird alles sein." Er stand auf, trat dicht an Friedrich heran.

"Waren Sie schon mal in Reims?", fragte er und fuhr ganz leicht mit dem Finger über Friedrichs Brust, ohne den Blick von dessen blauen Augen zu lassen.

Ein unmerkliches Schlucken war die Antwort. Dennoch ging Friedrich nicht auf Abstand.

"Nein Monsieur, ich war noch nie in Reims. Darf ich fragen, warum dass das Ziel unserer Reise ist?"

"Unsere Reise geht nicht direkt nach Reims, sondern in die Nähe, nach Craonne auf den Stammsitz derer de Montfort, zum 'Mont de Montfort'. Ich habe dort einige wichtige Dinge zu erledigen." Er wies mit einer Handbewegung auf die auf dem Tisch liegende Depesche als Erklärung. "Aber wir werden sicher Gelegenheit haben, uns ein wenig in Reims umzusehen, zum Beispiel die Kathedrale von Reims, in der Karl VII 1429 gekrönt wurde." Wieder sah er Friedrich tief in die Augen, machte aber keine Anstalten, ihn erneut zu berühren. Er hatte das kurze Schlucken bemerkt, auch Friedrichs Herzklopfen.

"Entschuldigt, dass ich gefragt habe. Ich wollte mich nicht in Familienangelegenheiten einmischen. Ich dachte, dass es eine Geschäftsreise sei. Ich werde für alles sorgen."

Friedrich verneigte sich und ging, um Jean Bescheid zu sagen und dann seine eigenen Sachen zusammenzuräumen.

Als er damit fertig war, nahm er eine besondere Tasche und ging dann wieder in das Arbeitszimmer des Comte und holte alle Geschäftsunterlagen aus dem Tresor, wie dieser ihn beauftragt hatte. Als er auch das rote Buch verstaut hatte, verschloss er die Tasche und verriegelte wieder den Tresor.

Mit gemessenen Schritten ging Friedrich dann zu den privaten Gemächern, die sich am Ende der Flucht an das Arbeitszimmer anschlossen und klopfte an. Als das Herein erklang, öffnete er und verneigte sich.

"Es ist alles gerichtet. Wünscht Ihr noch etwas, Monsieur?"

"Ja, ich wünsche, dass Sie das Abendessen mit mir zusammen einnehmen. Kommen Sie, setzten Sie sich zu mir." Erwartungsvoll sah er zu seinem Sekretär auf. "Ich möchte etwas richtig stellen. Sie vermuteten vorhin, dass es sich bei unserer Reise um eine Familienangelegenheit handele, was aber nicht richtig ist. Ich muss auf unseren Familiensitz, um mich um die Belange meiner Domäne und um einige geschäftliche Dinge in unseren Weinbergen zu kümmern. Außerdem gedenke ich diese Reise auch zu Erholungszwecken zu nutzten. Im Sommer ist es herrlich dort und nicht so heiß und stickig wie hier in Paris."

Er nickte Friedrich zu, sich zu setzten und von den gedeckten Speisen zu bedienen. Er selber hatte heute zum ersten Mal selber einen Teller mit Speisen vor sich stehen.

Dessen Hände strichen abwartend über den First der aufwendig geschnitzten Rückenlehne, erst dann setzte er sich.

"Darf ich näheres erfahren?", setzte er das begonnene Gespräch fort und nahm sich etwas von dem warmen Braten und von dem Weißbrot.

"Nun", begann der Comte, "die Belange meiner Domäne sind Dinge, die sehr spezielle und nicht für Außenstehende geeignet sind, was Sie hoffentlich verstehen werden. Ich denke, irgendwann wird der Augenblick kommen, an dem ich Ihnen mehr darüber erzählen kann, doch zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es noch zu früh. Was die geschäftlichen Dinge angeht, werden Sie bereits den Unterlagen der letzten Zeit entnommen haben, dass das Weingut zur Zeit nicht besonders gut läuft und auch der Champagner-Preis stagniert. Ich muss einfach mal wieder nach dem Rechten sehen. Sie kennen ja das Sprichwort: 'Ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch'. Obwohl Renard ein sehr fähiger Verwalter ist, muss ich einfach von Zeit zu Zeit Präsenz beweisen."

Er aß ein wenig von seinem Braten und trank dazu eine dunkelrote, schwere Flüssigkeit, die träge in Wallung geriet, als Lucien sein Kristallglas schwenkte.

"Ich verstehe. Wenn ich Ihnen behilflich sein kann, werde ich alles in meinen Kräften stehende tun", erbot sich Friedrich. Bisher war die Arbeit als Sekretär des Comte nicht der Rede wert, eine Reise würde wahrscheinlich Abwechslung bringen und er hoffte, mehr dabei zu lernen. Ein wenig nagte an ihm die umgekehrte Lebensweise und er sehnte sich nach der Sonne, deren Gunst er nur sehr wenig genießen durfte. Friedrich ließ sich davon nichts anmerken. Er hatte es gut getroffen. Eine angesehene Stellung und dabei besaß er noch nicht einmal Reputationen. Er durfte sich glücklich schätzen und der Brief letzte Woche von seinem Vater bestätigte ihm das.

Mit der Kennermiene es Sommeliers[2] trank Lucien aus seinem Glas und leckte sich dann in einer unbewussten, aber sehr lasziven Geste, den Rest von den Lippen.

"Ich hoffe, wir werden uns auf dieser Reise ein wenig näher, privater kennen lernen."

Friedrichs Kopf schnellte bei diesen Worten nach oben. Die Reste der genüsslichen Geste konnte er so noch sehen, so dass ihm die Röte ins Gesicht schoss. Er wollte noch fragen, wie der Comte dies gemeint haben könnte, biss sich dann aber auf seine Zunge.

Schnell senkte er wieder sein Gesicht. Nach zwei Atemzügen sah er wieder auf.

"Es wäre mir eine Ehre, Monsieur."

Friedrich hatte schon davon gehört, dass es Männer gab, die sich zu Männer hingezogen fühlten. Männerliebende...

Er schluckte. Eigentlich hatte er gedacht, die Anzeichen falsch zu interpretieren, doch konnte jetzt kein Zweifel mehr daran sein. Oder verstand er dessen Geste und Worte doch falsch?

"Monsieur, ist Ihnen nicht gut?", fragte Lucien besorgt, als er die plötzliche Röte auf Friedrichs Wangen sah. Er war sich ziemlich sicher, dass es etwas ganz anderes war, als ein plötzliches Unwohlsein, verkniff sich aber ein wissendes Lächeln. Oh ja, es würde eine Freude sein, diesem Jüngling die Unschuld zu rauben, obwohl er hoffte, dass er Friedrich dazu bringen konnte, sie ihm von sich aus zu schenken. Nur zu gern hätte er gewusst, wie weit sich der junge Mann überhaupt schon in den Künsten der Liebe auskannte. Ob er in seiner Heimat eine Freundin gehabt hatte? Oder ob er unterwegs auf seiner Reise mit irgendeiner Magd das Lager geteilt hatte? Für ein Freudenmädchen wird er definitiv kein Geld gehabt haben, außerdem machte ihm der Student nicht den Eindruck, dass er solche Etablissements aufsuchen würde. Aber ihnen stand eine Reise bevor, auch wenn diese nicht allzu lang sein würde, was man vom Aufenthalt in 'Mont de Montfort' nicht behaupten konnte, denn Lucien würde erst wieder zum Winter nach Paris kommen.

"Mir geht es ausgezeichnet, Monsieur. Ich habe mich nur verschluckt. Danke der Nachfrage. Darf ich mich empfehlen, Monsieur? Die Nacht ist schon weit vorgerückt." Friedrich betete im Stillen, dass ihm der Comte den Wunsch erfüllen würde.

"Sie wollen mich Ihrer köstlichen Gegenwart berauben?", fragte der Graf gespielt enttäuscht, aber mit einem Lachen auf dem Gesicht. "Gehen Sie nur, ich bedarf Ihrer Dienste nicht mehr." Er stand auf, um Friedrich zur Tür zu geleiten. Dort angekommen, legte er eine Hand auf die Klinke, den Sekretär damit aufhaltend.

"Haben Sie Angst vor mir, Friedrich?", fragte er leise und sah ihm fest in die Augen.

"Nein, Monsieur", entgegnete dieser. Friedrich war froh, den Augen Stand halten zu können.
"Ich hoffe, ich habe Euch keinen Anlass zu diesen Gedanken gegeben. Ihr seid ein großzügiger Herr." Ein ganz kleinwenig wurden Friedrichs Hände feucht. Er hatte unterschwellige Angst, aber es war nicht der Rede wert, als dass er den Comte damit belasten wolle. Außerdem lag es eher bei ihm. Sollte ihm dessen Annäherungen zuviel werden, würde er eben kündigen müssen. Sich aber aus Angst zu verkriechen, war absurd und jeder weitere Gedanke daran war entbehrlich und überflüssig.

"Dann ist ja gut." Sein Gesicht war eine lächelnde Maske, die nichts von seinen Gefühlen verriet. Lucien nahm seine Hand von der Klinke und gab damit den Weg für Friedrich frei.

Oh ja, es würde eine herrliche, erregende Jagd werden, dessen war sich Lucien sicher. Mit einem Schmunzeln schloss er die Tür hinter seinem Sekretär, dann durchquerte er den Raum und verließ ihn durch eine geheime Tapetentür. Trotz der Nahrung, die er verspeist hatte, knurrte ihm der Magen. Mit einem grimmigen Lächeln begab sich der Comte auf die Jagd nach einem nächtlichen Opfer.



[2] Sommelier = Kellermeister, Weinkenner




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