Der Meeresbrise-Key

Teil 1

Leron hielt sein Pferd lächelnd vor der Pforte des Meerespalastes an. Sein Blick glitt an der Mauer nach oben und er war wirklich angenehm von der Verarbeitung überrascht. Es war ein wundervolles Gebäude und genau dieses wollte er jetzt betreten. Schlanke, gut gepflegte, aber durch Handschuhe verdeckte Hände griffen nach dem Türklopfer und Leron bereute es nun, dass er seinen Diener nicht doch mitgenommen hatte. Den ganzen weiten Weg hatte er alleine zurückgelegt und sich nur hier und dort, einer Kutsche angeschlossen. Unterwegs war er auf nette Hoffräulein getroffen, hatte hier und dort geflirtet, doch sein Ziel stand ihm immer ganz genau vor Augen - der Meerespalast. Er hatte oft von ihm gehört. Es wurde in lobenden Tönen hinter vorgehaltener Hand von der Herrin und ihren Keys erzählt und davon wollte der junge Adlige sich nun selbst ein Bild machen.

Als der Schall des Türklopfers durch die große Halle schwang, liefen eilfertige Füße, das Tor zu öffnen. Ein zierlicher Junge trat zur Seite, verneigte und sprach: "Willkommen im Meerespalast, edler Herr." Mit einer Handbewegung lud er den Gast ein, das Haus zu betreten.

Leron trat ein, reichte dem Jungen die Zügel seines stolzen Rosses und bat ihn: "Striegeln und frisches Wasser!" Er war es gewöhnt Befehle zu erteilen und dachte nicht darüber nach, was die Bediensteten von ihm hielten. Auf weichem Teppich schritt der junge Adlige dahin, bis er vor der prunkvollen Treppe stehen blieb und sie hinaufblickte. Ruhig wartete er ab, bis er zu dem Reich der Herrin geführt wurde.

Ouril reichte die Zügel an den herbeigeeilten Stallburschen weiter und eilte dem neuen Gast hinterher.

"Wenn Ihr mir bitte folgen wollt, so geleite ich Euch zur Herrin", sagte er mit einer weiteren Verbeugung.

"Geh vor!" Leron hielt zwei Schritt Abstand und lief dem jungen Mann hinterher. Sein Blick glitt über die wundervolle, kostbare Einrichtung, die ihn an zu Hause erinnerte und schon standen sie vor einer großen Doppeltür.

"Herein!" Eine leise, sehr klangvolle Stimme ertönte durch die Tür, auf deren Flügeln Fische, Muscheln und andere Wassertiere zu sehen waren. Gemalt in solch lebendigen Farben, dass es dem Betrachter erschien als ob die Fische sich wirklich bewegten.

Kaum war das Wort verklungen, öffnete sich die Tür wie durch Zauberhand und gab den Blick auf einen Salon frei, in dem die Farbe Blau ihre Herrschaft hatte. Die Wände waren mit seidigen Stoffen verhängt, die sich unablässig bewegten. Man hatte den Eindruck einer ruhigen Meeresbrandung. Am Kopfende des Salons, auf einer kleinen Erhöhung, ruhte die Herrin des Meerespalastes auf einem Diwan.

"Ich grüße Euch!" Mit diesen Worten trat Leron näher, blieb am Fuße der Treppe stehen und schaute die bildhübsche Herrin des Palastes an. "Ich bin Leron von Habentor. Ich habe viel von Eurem Palast und Euren Keys gehört. Ich würde mir gerne einen Eindruck davon machen."

Mit einer Handbewegung bedeutete sie Leron, sich auf eines der dicken Kissen zu setzten. Lautlos erschien ein Diener, der auf einem Tablett zwei feingeschliffene Kristallkelche mit einer geheimnisvoll schimmernden, dunkelblauen Flüssigkeit brachte. Sie betrachtete Leron eine Weile, ehe sie leise fragte: "Und wie gedenkst du, dir diesen Eindruck verschaffen zu wollen?" Ihre blauen Augen hielten ihn über den Rand ihres Glases fest.

"Vielleicht könntet Ihr mich durch den Palast führen und mir einige der derzeit freien Keys vorstellen?" Etwas unsicher strich sich Leron einige der braunen Haarsträhnen aus der Stirn und trank von der blauen Flüssigkeit, die ihm sehr gut mundete.

Die Herrin lächelte. Wie aus dem Nichts erschien ein Diener, der wortlos eine reichverzierte Schatulle aus blauem Glas vor Leron abstellte und wieder verschwand. Auf Lerons fragenden Blick sagte die Herrin: "Öffne sie und sieh dir die Schlüssel an. Ein jeder zeigt die Eigenschaften des jeweiligen Keys."

Mit vorsichtigen Fingern klappte Leron die Schatulle auf und sah hinein. Er sah eine aus Silber nachgeformte Welle - der Key war sicher gefährlich, wie es große Wellen an sich hatten; eine aus Bergkristall gearbeitet Meduse[1], zu der Leron irgendwie keinen Charakterzug zuordnen konnte; ein Stück Holz, was anscheinend sehr lange im Wasser getrieben war, auch hier fiel Leron nicht wirklich etwas ein und dann war da noch der blaue Topas in Wolkenform. Ob dessen Key aufbrausend war? Eine Wolke war unberechenbar, man wusste nie, wann sie sich entlädt. Leron konnte also nicht wirklich sagen, was ihm die Schlüssel mitteilten, deswegen klappte er die kleine Truhe wieder zu und sah die Herrin an. "Kann ich die Keys nicht persönlich kennen lernen und ein wenig mit ihnen reden, dann fällt es mir sicherlich leichter mich zu entscheiden. Die Schlüssel sagen mir nicht gerade sehr viel und was ich auch nicht weiß, ist, wie der dazugehörige Key aussieht."

"Nun, jeder meine Keys ist von ausgesuchter Schönheit, das versichere ich dir. Ein vorheriges Kennen lernen ist leider nicht möglich, denn jeder Key würde sich unberechtigte Hoffnung machen, dass du sein neuer Herr sein würdest." Sie überlegte einen Moment, dann lächelte sie geheimnisvoll. "Es gäbe eine Möglichkeit, aber sie ist nur möglich, wenn du die Magie nicht fürchtest."

"Ihr könntet mir ja auch von den Keys erzählen", schlug Leron nun vor und lächelte weiter. Irgendwie war er enttäuscht, dass er sich vorher kein Bild von den freien Keys machen konnte, doch musste er dies wohl akzeptieren, aber wenn es eine Möglichkeit gab, dann sollte er diese auch nutzen. "Ich habe keine Angst vor Magie."

"Wenn du die Magie nicht fürchtest, dann kann ich dir einen Traum schicken, in dem du die Keys sehen kannst in ihren Zimmern. Du kannst sie beobachten, aber du kannst nicht mit ihnen sprechen." Erwartungsvoll sah sie ihn an.

"Der Vorschlag klingt gut." Erwartungsvoll schaute Leron die Herrin an. "Ich bin gespannt auf Eure Keys und sicherlich werde ich einen finden, er mir gefällt." Der junge Adlige mit den grünen Augen war aufgeregt und guter Hoffnung.

Die Herrin lächelte, bewegte ihre Hände leicht und schon fiel Leron in Schlaf, rutschte vom Sitzkissen und blieb auf dem weichen Teppich liegen. Zwei Diener erschienen, die ihn aufnahmen und in einen Nebenraum brachen, wo sie ihn auf ein bequemes Bett legten. Lächelnd folgte die Herrin den Diener, betrachtete Lerons schlafende Gestalt einen Moment ehe sie sich umwandte und den Raum verließ.

Als Leron einige Zeit später aus seinem Schlaf und dem wundervollen Traum erwachte, fand er sich in einem Bett wieder. Das Zimmer, in das man ihn gebracht hatte, gefiel ihm ausgezeichnet und so blieb er einfach liegen. Er war sowieso von der Reise erschöpft gewesen. In Gedanken sortierte er, was er in dem Traum gesehen hatte. Ein Key hatte es ihm ganz besonders angetan. Er sah die blauen Augen mit den dichten schwarzen Wimpern, so, als würde der Junge gerade vor ihm stehen. Langes, dunkelblaues, beinah schwarzblaues Haar fiel dem Key über die Schultern, bis zur Taille hinab. Er war nicht besonders groß, aber genau das war es, was Leron gefiel. Der weichfallende Seidenstoff hatte den wunderschönen Körper eher noch betont, als verdeckt. Dieser Key war es, den Leron haben wollte.

Die Herrin merkte auf. Ihr Gast war erwacht. Gemessenen Schrittes begab sie sich in den Nebenraum und sah fragend auf Leron. "Nun, hast du gesehen, was du zu wissen begehrtest? Hast du dich für einen Key entschieden?", fragte sie leise.

"Ich weiß den Namen nicht", antwortete Leron und richtete sich auf. "Er hat dunkelblaues Haar und blaue Augen." Direkt vor der Herrin des Palastes blieb der junge Adlige stehen. "Ich würde gerne etwas über die Bedingungen und die Preise erfahren."

Sie nickte und ging vor ihm wieder in ihren Salon, nahm auf dem Diwan Platz und bedeutete Leron, sich wieder auf eines der großen Kissen zu setzten. Mit einer Handbewegung forderte sie ihn auf, erneut die Glasschatulle zu öffnen und sich die Schlüssel zu betrachten.

"Du wirst wissen, welcher der richtige Schlüssel ist", sagte sie, als Leron sie zweifelnd ansah.

"Die Bedingungen sind einfach: Du erwirbst den Schlüssel für eine bestimmte Zeit, in der dir das Zimmer mit seinem gesamten Inventar zur Verfügung steht. Du kannst damit tun und lassen, was du willst. Solltest du allerdings den Key vorsätzlich töten, so hast du an seine Stelle zu treten und solange als Key zu dienen, bis sein Wert abgearbeitet ist. Eine Abgeltung mit Geld ist nicht möglich!" Sie sah ihm scharf in die Augen bei diesen Worten. Sie hatte schon erlebt, dass ein reicher Holder dachte, er könne sich alles erlauben und den entstandenen Schaden dann mit Geld regeln. In anderen Palästen waren die Keys wirkliche Sklaven, ohne Rechte, nicht mal das Recht auf Leben war ihnen vergönnt, doch die Herrin sorgte sich um ihre Keys.

"Der Preis richtet sich nach dem Schlüssel, den du wählst."

Zielsicher griff Leron nach dem blauen Topas und zeigte ihn der Herrin. "Ich möchte ihn erst einmal für zwei Monate kaufen und sehen, wie gut ich mit ihm klarkomme und ich bitte Euch, diesen Schlüssel in den nächsten Tagen an niemand anderen zu vergeben, da ich meinem Diener erst eine Nachricht zukommen lassen muss, damit dieser mir die entsprechende Anzahl an Talern bringen kann. Habt Ihr einen Boten?"

"Eine gute Wahl. Du hast dich für den Meeresbrisen-Key entschieden." Sie nickte wohlwollend. Ja, Cay würde gut zu dem jungen Adligen passen. Sie nannte ihm den Preis, den er für die zwei Monate zu entrichten hatte. Dann klatschte sie kurz in die Hände und ein junger Diener erschien, kniete sich vor ihr nieder und erwartete ihre Anweisungen.

"Folge Ouril, er wird dich zum Meeresbrisen-Zimmer führen. Ein Bote ist bereits unterwegs." Mit einem Nicken entließ sie Leron.

Etwas irritiert schaute Leron die Herrin an. "Ich darf gleich zu dem Key?" Er konnte nicht so recht glauben, dass er tatsächlich sofort und ohne den Preis zu entrichten den Jungen mit den blauen Haaren besuchen durfte. Er sah den als Ouril vorgestellten Jungen an und wartete noch auf eine Antwort der Herrin, ehe er den Raum verließ.

Die Herrin nickte. "Du wirst den Preis bezahlen, ich weiß es." Mit einem Lächeln ließ sie ihn einfach stehen und verschwand hinter den Tüchern, die den Raum teilten.

Nur ein Schulterzucken hatte Leron für die Antwort und den schnellen Abgang der Herrin übrig, dann folgte er Ouril zu dem Gemach seines Keys. "Wie heißt er eigentlich?", erkundigte er sich bei seinem Führer, ehe er den Schlüssel einsetzte.

Ouril sah ihn mit großen Augen an. "Ich? Ich heiße Ouril, Herr", antwortete der Junge schüchtern und sah zu Boden.

Leron musste lächeln, als Ouril sich vorstellte. Er wusste doch den Namen von dem Jungen neben sich. Anscheinend hatte er sich ein wenig undeutlich ausgedrückt. "Ich weiß, dass du Ouril heißt. Ich wollte von dir erfahren, wie der Name meines Keys ist."

Ehe Ouril antworten konnte, sprang die Tür mit einem leisen Geräusch auf und enthob ihn so einer Antwort. Mit einer tiefen Verbeugung verabschiedete er sich und lief den Gang hinunter.

Erschrocken trat Leron einen Schritt zurück. Er wusste nicht, warum die Tür eben aufgegangen war, denn den Schlüssel hielt er immer noch fest in der Hand. Etwas irritiert sah er Ouril nach, dann er sah er durch den Türrahmen auf das, was sich dahinter befand.

 

Cay sah von seinem Buch auf. Seine Tür war offen! Er hatte also wieder einen Holder. Schnell legte er das Buch zur Seite, sprang auf und lief zur Tür, aber niemand trat ein. Verwundert starrte der Junge auf die halb geöffnete Tür.

Das erste, was Leron sah, waren die wundervollen blauen Haare. Langsam trat er ein und blieb vor dem noch jungen Key stehen. Er sah ihn einfach nur an, schaute in die blauen Augen und lächelte. "Wie ist dein Name?", erkundigte er sich augenblicklich, damit er wusste, wie er den Jungen ansprechen konnte.

Als ein junger Mann den Raum betrat, fiel Cay vor ihm auf die Knie, senkte seinen Kopf und sagte leise, aber deutlich: "Willkommen im Meerespalast, Herr. Ich bin Cay, der Meeresbrisen-Key."

Ein neuer Herr war immer eine aufregenden Sache. Dieser hier war jung, bestimmt nicht sehr viel älter als er selber und im ersten Augenblick machte er einen netten Eindruck.

Mit klopfendem Herzen wartete er darauf, was sein neuer Holder nun wohl tun würde.



[1] zoologische Bezeichnung für Qualle




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